Forschungskolloquium Vol. 20
Es mutete schon etwas merkwürdig an, sich nach der langen Pandemie-Zeit (ist sie schon vorbei?) endlich wieder auf den Weg zu machen, sich vor Ort zu treffen, gemeinsam in einem Raum sitzen, denken und diskutieren. Aber ja, nicht hybrid, nicht online, sondern in Präsenz fand das 20. Forschungskolloquium in Wolfenbüttel statt: Das Ungewöhnliche im Alltäglichen und das Alltägliche im Ungewöhnlichen. Am 2. und 3. März 2022 traf sich in einer für die Tradition des Kolloquiums gewohnten Umgebung eine Gruppe, um in der Form des critical friends über aktuelle Forschungsergebnisse, Arbeitsstände, Ideen und vor allem über offene Fragen zu diskutieren.
Die wissenschaftliche Begleitung übernahmen dieses Mal Vanessa-Isabelle Reinwand-Weiss, Sarah Kuschel, Fabian Hoffmann und Thomas Wilke. Am Mittwoch stellte als erstes Christian Gedschold sein Dissertationsprojekt vor. Ihn beschäftigen Theaterjugendclubs im Entwicklungsgeschehen Jugendlicher und mit Hilfe der Grounded Theory ermittelt er Sinnstrukturen, die in dieser Phase Identitätsprozesse und die Sozialisation ganz allgemein flankieren, irritieren, katalysieren. Die Diskussion war sehr lebhaft, gerade in Bezug auf Fragen, wie verbreitet das Phänomen Theaterjugendclub tatsächlich in Deutschland ist und welche Rolle hier Einflussfaktoren wie Milieu, Gerechtigkeitsempfinden und (körperliche) Erfahrung spielen.
Im Anschluss gab es einen theoretisch-methodischen Impuls von Fabian Hoffmann. Ihm ging es um Aushandlungsprozesse im Kontext Kultureller Bildung und wie diese sichtbar werden bzw. wenn sie sichtbar werden, wie sie analysiert werden können. Mit der videografischen Konversationsanalyse ist es im Rahmen der Ethnomethodologie möglich, Sichtbarkeiten als solche zu markieren, dynamische Verläufe zu erfassen und dies in der Sichtbarkeit und Dynamik zu analysieren. Wie die Diskussion im Anschluss zeigte, wird es recht schnell komplex, wenn der eigentliche Analysefokus scharf gestellt wird: die Wiederherstellung oder die Neukonfiguration sozialer Ordnungen. Das immer wieder zu beobachtende Wechselspiel zwischen Aushandlungsprozessen individueller Freiheiten im Rahmen einer vorgegebenen Ordnung und den intendierten wie auch nichtintendierten Grenzüberschreitungen.
Nachdem Ellen Steinmüller bereits im letzten Kolloquium ihr Dissertationsprojekt Lives transformed through dance. A theoretical foundation of the Dance United methodology vorgestellt hatte, berichtete sie am Donnerstag über den aktuellen Arbeitsstand. Deutlich kam dabei heraus, welche Schwierigkeiten in der Begriffsarbeit und im Verständnis entstehen und wie voraussetzungsreich es wird, will man Bedeutungsgehalt der Dance-Company im Kontext der britischen Sozial- und Kulturarbeit verstehen. Ebenso wie wichtig es ist, zu überlegen, welche Perspektiven man/frau auf sein Material entwickeln muss, um den je eigenen Fragestellungen gerecht zu werden.
Schließlich stellten Jenny Bohn und Claudia Roßkopf ein aktuelles Projekt vor: Droste Pad. Dabei handelt es sich um ein Projekt, das die bis dato analogen und teilweise digital bestehenden (Bildungs-)Angebote zu und über Annette von Droste-Hülshoff digital miteinander verknüpft und didaktisch sowie barrierefrei aufbereitet werden. In die Überlegungen fließt mit ein, worin unsichtbare Barrieren bestehen und wie ein digitaler Raum zu einem sozialen mithin kulturellen Interaktionsraum werden kann und welche Voraussetzungen hierfür geschaffen werden müssen. In diesem Zusammenhang gab es eine bemerkenswerte Verknüpfung: Da Jenny Bohn leider nicht vor Ort sein konnte, hatten wir eine medientheoretisch interessante Hybridsituation, indem zwei Rechner und ein Beamer eine komplexe Interaktionsverweisstruktur im digitalen Raum inklusive Spiegelung konstituierten, der handlungsleitend für den analogen Raum wurde.
Es waren resümierend zwei sehr intensive Tage, zumal sich am Dienstag bereits der Koordinationskreis traf. Die persönliche Begegnung und das direkte aufeinander Eingehen lassen sich nicht durch online-Formate ersetzen. Denn dazu gehören ebenfalls das gemeinsame Essen oder das am Abend Zusammensitzen. Das situative Moment geht über das konzentrierte und ergebnisorientierte Diskutieren hinaus, und es finden sich weitere Themen und Interessen. Die Freude auf das kommende Kolloquium wurde bereits geäußert und Präsentationsslots für die nächsten beiden Kolloquien reserviert.
Dank an dieser Stelle an die Bundesakademie, in deren Gästehaus wir uns rundum wohl fühlen konnten und Claudia Roßkopf für die reibungslose Organisation des Kolloquiums.
Thomas Wilke lehrt er als Professor für Kulturelle Bildung an der Pädagogischen Hochschule in Ludwigsburg und ist Mitglied im Koordinierungskreis des Netzwerk Forschung Kulturelle Bildung.